Rika Unger, die Bildhauerin, die unseren großen Portalengel geschaffen hat, schreibt in einem Brief 1954:
Was Wilhelm von Hausenstein zu Vincent van Goghs Bildern sagt, es ist genau das, was ich mit allem, was in mir zur Gestaltung drängt, bejahe.
Damit stellt er sie dar, diese letzte hohe Freiheit des künstlerischen Schaffens - die selbstverständliche Übung, Schulung, Handhabung der technischen Mittel in sich schließt, ohne aber je den schöpferischen Impuls wecken zu können. Dieser - so sehe ich es - empfängt das Ich des Künstlers unmittelbar aus göttlichen - geistigen Welten ...
Wir wollen alle schöpferischen Kräfte darein setzen, dass nur Neues werden möchte und wollen uns immerfort daran erinnern, so dunkel und ausweglos sich alles zeigt, dass am Ende das Licht den Sieg haben wird.
Ich habe das auch so erlebt, als ich den großen Engel arbeitete, der jetzt in Altenkirchen am Kirchengiebel hängt. Es war, als richtete sich alles Dämonische gegen mich, um mich zu lähmen und zu ängstigen. Es war finster in mir und um mich. Doch dann wurde alles gut. So ist unser Weg - dieses eigenartige Hoffen und Drängen auf etwas hin - dieses Gewaltige, das uns überkommt, stärker als dir selbst. Dies alles gibt uns die Kraft des Wartens, zügelt unsere Ungeduld: „es führt uns der Weg“ (Christian Morgenstern).
Bild: Dr. Gabriele Bieling, Galerie Rika Unger, Münster
Zur Entstehungsgeschichte
Dieser Bericht stammt von Gabriele Bieling, der Nichte von Rika Unger, die 1953/54 bei der Entstehung des Engels dabei war. Sie verwaltet den Nachlass von Rika Unger und leitet eine Galerie in Münster
Als Rika Unger den Auftrag bekam, für die Kirche in Altenkirchen einen Portalengel zu gestalten, wohnte sie mit der Familie ihrer Schwester, für die sie sorgte, im Wasserschloss in Burgsteinfurt. Dorthin war die Familie evakuiert worden, da Münster während des Zweiten Weltkrieges weitgehend zerstört worden war. In dem Schloss hatte Rika Unger nur ein Turmzimmer zur Verfügung, in dem sie kleinere bildhauerische Arbeiten ausführte. Als sie die architektonische Skizze der Fassade der Kirche erhielt, war ihr schnell klar, dass sie für die Gestaltung des Engels einen eigenen Raum benötigte. Um die Größe und Proportionen des Engels zu ermitteln, benutzte sie ein Knotenseil, das sie aus dem Fenster eines Giebels des Schlosses, der die Höhe der Kirchenwand hatte, hängen ließ, um sich von unten die perspektivische Veränderung anzusehen.
Danach legte sie die Größe und die Proportionen fest. Als Werkstatt benutzte sie einen 1,80 m hohen Holzstall, der die passende Länge von 5 m hatte, aber nicht die Höhe (Länge des Engels 4,60 m). Sie ließ sich von einem Schreiner ein Holzbrett von der nötigen Länge herstellen, das auf verschieden hohen Böcken in diesem Holzstall angebracht wurde. Sie arbeitete das Tonmodell auf diesem Brett, indem sie auf dem Brett neben der entstehenden Skulptur entlang lief. Aufrecht stehen konnte sie nur am Fuß des Engels, oben neben dem Kopf musste sie hocken; die übrigen Stellen musste sie in gebückter Haltung gestalten. Den ganzen Engel konnte sie nur in einem großen Spiegel sehen, den sie in entsprechendem Winkel am Fußende des Brettes aufgestellt hatte.
Als das Tonmodell fertig war, stellte sie mit Hilfe eines befreundeten Glockengießers das Gipsmodell selber her, was unter diesen Bedingungen äußerst schwierig war. Als das Gipsmodell fertig auf dem Brett lag, schrieb sie der Gemeinde, Pfarrer und Presbyter könnten zum Anschauen kommen. Die Abordnung der Gemeinde kam und reagierte entsetzt auf Rika Ungers Gestaltung. „Das ist der Ausdruck des Nihilismus unserer Zeit. Den können wir an der Kirche nicht aufhängen.“
Der Versuch der Bildhauerin, den Besuchern die Grundidee – der Engel als Bote Gottes, der wie ein Instrument die Botschaft Gottes überbringt – wurde gar nicht zur Kenntnis genommen und man verabschiedete sich schnell. Rika Unger war natürlich zutiefst enttäuscht. Als ein kunstinteressierter Bekannter sich nach dem Engel bei ihr erkundigte und sie ihm die Geschichte erzählte, bot er an, er wolle der Gemeinde einen Brief schreiben und seine Interpretation der Skulptur erläutern; denn er war von der Gestaltung des Engels begeistert. Rika Unger willigte gern ein, denn die Ablehnung durch die Gemeinde war nicht nur ideell für sie schwer zu verkraften, sondern auch finanziell, da die Gemeinde weder den Entwurf noch die Materialkosten zahlen wollte. Der Brief wurde geschrieben, aber nichts geschah. Nach mehreren Monaten erkundigte sich ein Konsistorialrat aus Düsseldorf nach dem Fortgang des Projektes und war betroffen, als er die Geschichte hörte. Er kam, schaute sich den Engel an und war begeistert. Er beschloss mit dem Pfarrer und der Gemeindeleitung zu sprechen und ihnen vorzuschlagen, eine Predigtreihe zum Thema „Engel“ zu machen; ihm war klar, dass das Bild der Engel in der Gemeinde offensichtlich von niedlich gestalteten Putten geprägt war.
Wieder vergingen Monate. Eines Tages kam dann die Nachricht: Der Engel kann gegossen werden. Das war für Rika Unger eine Erlösung. Dann kam der Tag, an dem der gegossene Engel (es war ein Eisenguss) in Altenkirchen aufgehängt werden sollte. Rika Unger wollte unbedingt dabei sein; denn die Frage der Stimmigkeit der Proportionen würde sie nur an Ort und Stelle beurteilen können. Am Abend vorher sagte sie zu ihrer Schwester: „Wenn ich sehe, dass die Proportionen nicht stimmen, werde ich veranlassen, dass der Engel nicht aufgehängt wird.“ Dieser Vorsatz zeigt, dass sie keinerlei Kompromisse in Bezug auf ihre Kunst eingehen wollte. Sie fuhr morgens um 5 Uhr per Anhalter nach Altenkirchen und beobachtete die Anbringung. Die Proportionen stimmten.
Bei der Einweihung des Engels sprach ein Gemeindevertreter sie an: „Na, Fräulein Unger, sind Sie jetzt zufrieden?“ Als Rika Unger das bejahte, sagte er: „Wir haben es uns ja auch nicht leicht gemacht.“